Die neue polnische Regierung hat für Staatsmedien tätige kritische Journalisten entlassen, das Verfassungsgericht mit loyalen Richtern besetzt und den Plan der EU abgelehnt, Flüchtlinge in Europa nach Quoten zu verteilen. In Deutschland haben manche Angst, dass das Nachbarland zu einer Diktatur wird. Haben Sie in den vergangenen Jahren eine Veränderung des Klimas wahrgenommen?
Ja natürlich, es ist seit der Flugzeugkatastrophe von Smolensk 2010 immer rauher geworden. Das Schlimmste ist aber die enorme Auswanderungswelle seit 2004. Seither sind etwa drei Millionen Polen ins Ausland gegangen, darunter viele Bekannte von mir. Zunächst ging man nach Großbritannien, dann verstärkt nach Deutschland. Das ist besorgniserregend, langfristig viel mehr als der Wahlsieg des rechten Lagers.
Polen gehörte in den vergangenen Jahren zu den EU-Staaten mit dem größten Wirtschaftswachstum. Warschau, Krakau und Breslau sind gerade bei jungen Europäern beliebte Metropolen mit einem regen Kultur- und Nachtleben. Warum fliehen die Menschen trotzdem?
Es geht aufwärts, aber in kleinen Schritten. Das reicht vielen nicht. Zudem spiegeln die Statistiken nicht das wahre Leben wider. Eine Freundin von mir hat in Warschau einen gut bezahlten Job bei einer amerikanischen Firma, für den sie 800 Euro netto im Monat bekommt. Sie muss aber allein für ihre Wohnung schon 400 Euro Miete zahlen. Ein Lehrer mit fünfjähriger Berufserfahrung bekommt sogar nur 500 Euro im Monat. Das ist der Grund, warum gerade Akademiker weggehen.
Aber verglichen mit Tschechien oder Ungarn steht Polen doch gut da.
Man vergleicht sich in Polen aber nicht mit Tschechien, sondern eher mit Deutschland. Und dann gibt es da noch einen sehr fatalen Mechanismus, den ich als gespaltenen polnischen Patriotismus bezeichnen würde. Wir Deutschen würden uns ja nur widerwillig als Patrioten bezeichnen, aber de facto sind wir es. Im Stillen freuen wir uns, dass hier alles so gut läuft. In Polen ist es genau umgekehrt: Man ist sehr patriotisch, besonders, wenn von außen Kritik kommt. Doch untereinander und mit dem eigenen Land sind die Leute sehr kritisch. Wenn beim Fußball die Hymne gesungen wird, singen alle lautstark mit, aber sobald sie aus dem Stadion raus sind, schimpfen sie wieder auf ihr Land. Das geht schon los, wenn die Straßenbahn zu spät kommt. Die Wutspirale dreht sich so lange, bis man am Ende auswandert – obwohl man doch eigentlich ein großer Patriot ist.
Dann müsste jetzt der Unmut umso größer sein – angesichts des Wahlsiegs der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), die in beiden Parlamentskammern die absolute Mehrheit gewann und nun die Macht ihrer Regierung mit rechtstaatlich umstrittenen Mitteln ausbaut.
Das ist ja auch teilweise der Fall. Es gibt seit dem Regierungsantritt im November Massendemonstrationen, allein in Warschau waren es drei oder vier mit jeweils über 20.000 Teilnehmern. Da waren übrigens jede Menge Ältere aus der alten Solidarność-Bewegung dabei, die sich Sorgen um die Demokratie machen. Doch es gibt auch Gegendemonstrationen für die neue Regierung, die besonders auf dem Land und in kleineren Städten ihre Unterstützer hat. Aber eben nicht nur. Es gibt auch viele Großstädter, die die PiS gewählt haben. Sie sagen, dass jedes Mittel recht ist, um die Massenauswanderung aufzuhalten.
Lech Wałęsa, früherer polnischer Präsident und Anführer der damaligen Solidarność-Bewegung, hat bereits vor einem Bürgerkrieg gewarnt. Ist das Land wirklich so gespalten?
Die polnische Gesellschaft ist schon seit Jahren polarisiert, doch die Diskussionen in Familien oder Lehrerzimmern werden immer unversöhnlicher. Ich bin vor kurzem mit einem Taxifahrer durch Warschau gefahren. Der war ungefähr 60 und entschieden gegen die PiS, sein 28-Jähriger Sohn aber begeisterter Anhänger, weil er in der alten Regierung Zynismus und Korruption am Werk gesehen hat. Vater und Sohn reden deshalb nicht mehr miteinander. Selbst die Katholiken sind gespalten: Die Hardcorefraktion hört den PiS-affinen Sender Radio Maria, aber es gibt auch Katholiken, die sich distanzieren, etwa den Jesuitenorden in Krakau.
Ein polnisches Magazin hat jetzt Angela Merkel in Hitler-Pose gezeigt. Sind diese plumpen Ressentiments mehrheitsfähig?
Merkel macht in Wahrheit niemandem Angst, sie ist nach wie vor die beliebteste deutsche Politikerin in Polen. Aber diese aggressiven Cover sind ein Beispiel für die jahrelange Demagogie, die von den rechten polnischen Medien betrieben wird. Da wird jeden Tag gegen Deutschland gehetzt, teils mit Erfolg. Ich habe gestern eine Mail von einer Bibliothekarin aus Südostpolen bekommen, die eigentlich europafreundlich ist. Sie äußerte sich wütend über das eingeleitete Prüfverfahren der EU, ihrer Meinung nach angeführt von Deutschland. Zudem habe sie gelesen, dass 80 Prozent der Medien in Polen deutschen Konzernen gehörten. Sie habe keine Lust auf eine neue Okkupation. Ich habe ihr zurückgeschrieben: Eine der Zeitungen, die die PiS am meisten unterstützt und auch ordentlich gegen Deutschland hetzt, ist das Boulevardblatt Fakt, das ausgerechnet dem deutschen Springer-Verlag gehört. Also könne es doch mit der Okkupation nicht so schlimm sein.
Polen wird dafür kritisiert, dass es sich einer EU-Regelung zur Aufnahme von Flüchtlingen verschließt. Haben die Menschen Angst vor Fremden?
Ja, haben sie. Aber man muss das auch ein Stück weit verstehen. Der ehemalige deutsche Botschafter in Warschau Reinhard Schweppe hat es so formuliert: Polen stehe heute dort, wo Westdeutschland 1960 war. Die erste Phase des Wirtschaftsaufschwungs war damals vorbei, und es kamen die ersten Gastarbeiter. Der Unterschied ist allerdings der, dass die Deutschen diese selbst ins Land geholt haben und 50 Jahre Zeit hatten, sich an ihre Anwesenheit zu gewöhnen. Die Polen werden jetzt zu einem Sprung über 50 Jahre hinweg gedrängt. Wenn man die Deutschen 1960 gefragt hätte, ob sie auf einen Schlag 100.000 Muslime ins Land holen wollen, hätten die meisten sicherlich Nein gesagt. Und genau das passiert derzeit in Polen. Viele glauben: Wenn fünf Moslems einreisen, dann wird gleich die Scharia eingeführt. Es ist wohl eine ähnliche Hysterie wie in den neuen Bundesländern. Gerade weil man weniger Erfahrungen hat, sind die Ängste übertrieben groß.
Wie geht’s weiter in Polen? Werden die Demos größer?
Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder sehen wir in vier Jahren den üblichen polnischen Trotz-Mechanismus, dann wird die Regierung abgewählt. Es kann aber auch sein, dass ihre Popularität steigt, weil sie konsequent ihre populistischen Reformen umsetzt: die Absenkung des Rentenalters, eine Schulreform und 125 Euro Kindergeld. Dafür muss sich das Land allerdings enorm verschulden, weswegen auch das Verfassungsgericht neu besetzt werden musste. Die vorherigen Richter hätten dieser Verschuldung garantiert nicht zugestimmt. Jetzt ist dieses Hindernis beseitigt, und prompt sagte mir ein polnischer Freund anerkennend, er habe das Gefühl, dass zum ersten Mal eine Regierung ihre Wahlversprechen halten wird.
In den vergangenen Jahren war das Interesse der Deutschen an Polen nicht sonderlich groß. Wenn man öfter im Grenzgebiet unterwegs ist, staunt man eher, wie wenig Verkehr es dort gibt.
So ist es auch immer noch. Aber das hindert so manchen deutschen Journalisten ja nicht daran, ordentlich draufzuhauen, auch wenn er sich im Grunde kein bisschen für Polen interessiert. Ich habe in seriösen deutschen Medien wütende Kommentare gelesen, die den Polen schon die Europa-Reife absprechen. Das ist arrogant und ungerecht gegenüber mindestens 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung.
Haben Sie noch die Möglichkeit, in den polnischen Medien Ihre Meinung zu sagen?
Ja. Nächste Woche habe ich zwei Interviews bei großen Radiosendern. Mal sehen, was sie fragen, aber ich werde mich ganz sicher davor hüten, gute Ratschläge zu erteilen. Kritik sollte man den Polen selbst überlassen, das können sie bis zur Selbstzerfleischung. Ich werde mich stattdessen wieder ein wenig in Selbstironie üben. Damit rechnen sie bei einem Deutschen zu allerletzt.
Das Gespräch wurde von Oliver Gehrs geführt