Interview in der Süddeutschen Zeitung (06.12.25)

Viktora Großmann (SZ.de)

In Polen ist Steffen Möller ein Star, bekannt als Kabarettist und Seriendarsteller, in Deutschland ist er derzeit mit seinem neuen Bühnenprogramm „Präsident von Polschland“ unterwegs, in dem er das Beste aus beiden Ländern zusammenbringen will. Jetzt sitzt er beim Tee in einem Lokal in Warschau. Am Abend zuvor hat er eine polnische Firmenfeier moderiert, bei der es anscheinend hoch herging. Und schon ist Möller mitten in seinem Lieblingsthema – der polnischen Mentalität.

SZ: Herr Möller, Sie leben seit Anfang der Neunziger zumindest teilweise in Polen, vielleicht können Sie mir das erklären: Warum gehen die Menschen hier nie bei Rot über die Ampel? Sondern stehen wie festbetoniert, bis Grün wird, selbst wenn die Straße frei ist? Das erwartet man nicht von Hauptstädtern, schon gar nicht von den freiheitsliebenden Polen.

Steffen Möller: Schön, dass Sie das auch beobachtet haben! Das glaubt mir nämlich keiner hier. Die Polen sagen immer, dass nur wir Deutsche an der Ampel stehen bleiben, während sie selbst alle Anarchisten seien.

Wenn ich trotz Rot loslaufe, geht fast nie jemand mit …

Ja, in mancher Hinsicht sind sie eben doch recht brav. Obwohl ich letztlich glaube, dass sie Anarchisten sind. Aber nicht in so einem direkten Sinn, dass sie die Gesetze übertreten. Sie kennen das Wort kombinowa?? Das heißt nicht, etwas Illegales zu tun, sondern die Grauzone auszunutzen. Und eine rote Ampel ist kein Graubereich. Die ist rot. Wenn es noch Gelb gäbe, würden sie alle bei Gelb rüber. Dunkelgelb. Da, wo es nicht ganz klar ist, machen sie, was sie wollen. Aber ich schiebe gleich hinterher, dass die Kriminalität viel niedriger ist als bei uns. Mir wurde zum Beispiel noch nie ein Fahrrad geklaut in Warschau, in Berlin schon dreimal.

Und es wird viel Fahrrad gefahren, es werden auch dauernd neue Radwege in Warschau gebaut.

Interessanterweise klingelt man aber nicht auf Fahrradwegen.

Nicht?

Viel seltener. Für viele unserer Landsleute ist das ja ein Lieblingssport: Hau ab da aus meinem Weg! Einige steigen sogar ab und belehren einen. Hier in Polen ist das Schöne: Sie umschiffen dich, sie klingeln nicht. Weil sie sich nicht wechselseitig belehren, ist auch die Aggression im Alltag, auf den Fußwegen oder Radwegen und in der U-Bahn, viel geringer. Was mir aber wieder kein Pole glaubt. Sie finden immer Deutschland viel kultivierter und ruhiger.

Vielleicht, weil der polnische Autoverkehr als eher anstrengend gilt.

Stimmt, Autofahren ist was anderes, da fühle ich mich bis heute nicht wohl und sicher. Die Unfallzahlen liegen prozentual in Polen auch immer deutlich höher als in Deutschland.

Zur Person

Zumindest in Warschau leiten aber alle Autofahrer schon 100 Meter vor dem Zebrastreifen den Bremsvorgang ein, wenn sie auch nur einen Fußgänger in der Nähe vermuten.

Das ist allerdings ein Paradigmenwechsel! Eine neue Entwicklung!

Und davon hat es sicher noch mehr gegeben, seit Sie 2008 Ihren Bestseller „Viva Polonia“ veröffentlicht haben. Können Sie das Buch guten Gewissens heute immer noch so verkaufen?

Immerhin habe ich es 2018 überarbeitet. Aber es hat sich wirklich einiges verändert. Der Nationalismus zum Beispiel. Diese Hydra ist wieder aufgewacht. Das begann mit Smolensk 2010.

Sie meinen den Flugzeugabsturz, bei dem unter anderem der damalige Präsident Lech Kaczy?ski starb. Sein Bruder Jaros?aw behauptet bis heute, die Russen seien schuld. Dabei zeigen alle Belege, dass der Pilot bei dem Nebel niemals hätte landen dürfen.

Diese unsägliche Lüge von Jaros?aw Kaczy?ski hat nach und nach alle bösen Geister wieder aufgeweckt. Trotzdem: Noch 2012 war vieles anders, die Fußball-EM war für mich ein Höhepunkt der deutsch-polnischen Beziehungen. Damals hat, wie heute wieder, Donald Tusk regiert. Ich hatte das Gefühl, dass alles auf dem besten Wege ist. Hunderte deutsche Fans fuhren mit dem Eurocity von Berlin nach Warschau. Und plötzlich wurde dem Kellner im polnischen Speisewagen seine Kasse geklaut. Von einem deutschen Fußballfan. Da dachte ich: Wenn wir Deutschen die Polen beklauen, dann haben sich die Dinge normalisiert.

Da war Smolensk ja schon zwei Jahre her.

Ja, aber damals dachte man, das Problem Kaczy?ski sei ein für alle Mal erledigt. Der Typ habe sich völlig unmöglich gemacht mit seiner Smolensk-Legende. Aber dann ging es 2015 erst so richtig los, das war ein Schock.

In Ihrem Buch von 2008 haben Sie geschrieben, dass die Polen nicht anfällig sind für Ideologien oder Fanatismus. Stimmt das heute noch? Sie lächeln schon …

Das habe ich gesagt als Deutscher, der in den Neunzigern hierherkam. Damals war Polen nahezu ideologiefrei. Es gab zwar die Postkommunisten, aber das waren keine Kommunisten mehr. Mit Ideologie meinte ich damals linke Ideologie, dieser ganze linke Quatsch, etwa an unseren Unis mit den Asta-Wahlen, bei denen alle immer voll gegen Amerika waren, die angebliche internationale Völkermordzentrale. Mit Ideologie von rechts hatte ich nicht gerechnet.

Können Sie verstehen, dass man in Polen immer wieder die Erzählung vom bösen Deutschen aktivieren kann? Dass man wirklich Erfolg hat mit der abstrusen Geschichte, die Deutschen würden Tausende Ausländer nach Polen schicken, um Polen zu schaden?

Das wundert mich auch. Auch bei diesem Reparationsthema: Was mich daran rasend macht, ist, dass es diesen Leuten ja gar nicht ums Geld geht. Es geht um Propaganda, um Wählerstimmen, um das schnelle Gift, das sofort in die Köpfe geht. Selbst wenn wir zahlen würden, würden sie uns deshalb ja nicht netter finden.

Hatten Sie je das Gefühl, das Thema ist eigentlich erledigt?

1993 war ich für eine Konferenz das erste Mal in Warschau. Aus Anlass des 50. Jahrestages des Ghetto-Aufstandes vom April 1943 waren Studenten aus Polen, Deutschland und Israel eingeladen. Eine Woche lang wurde diskutiert. Es gab wüste Diskussionen, Schreiereien, Türenschlagen. Und zwar zwischen der polnischen und der jüdischen Seite: Wer hat im Krieg mehr gelitten? Für uns Deutsche hat sich dabei keiner interessiert. Beide Seiten haben uns nur auf die Schulter geklopft: Ihr seid in Ordnung. Helmut Kohl in Kreisau 1989 und Willy Brandt 1970 in Warschau hatten die Dinge weitgehend geklärt.

Sie dachten, Polen und Deutsche seien versöhnt?

Ja, genau. Diese Konferenz war einerseits ein Desaster und zugleich für mich sehr wichtig. Ich habe gesehen: Ich kann hier leben und werde nicht vom Thema Vergangenheit eingeholt. Das schien erledigt zu sein. Niemand hat damals über Reparationen geredet. Und dann kommt dieser Manipulator und Demagoge Kaczy?ski und bringt das Thema wieder hoch. Nach allem, was geschafft wurde von beiden Seiten.

Was denn zum Beispiel?

Das deutsch-polnische Jugendwerk macht etwa eine super Arbeit. Das wird doch von den Rechten keine Sekunde zur Kenntnis genommen. Ich moderiere auch häufig Begegnungen deutsch-polnischer Städtepartnerschaften. Die laufen häufig ganz wunderbar. Das führt mich zu meiner Lieblingstheorie: An der Basis läuft es gut. Städtepartnerschaften, Wirtschaft, Schüleraustausch, Ehen – sehr gut. Politisch leider: sehr schlecht. Zwischen Deutschland und Frankreich ist es vielleicht umgekehrt: Politisch offiziell wunderbar, Konsultationen, Freundschaft, man liegt sich in den Armen. Und an der Basis läuft nicht so viel.

Vielleicht liegt es daran, dass viele Polen nach Deutschland auswandern, so begegnet man sich.

Vielleicht. Tatsache ist, dass Deutsche und Franzosen sich auf der unteren Ebene viel weniger begegnen als Deutsche und Polen. Und das hat meiner Ansicht nach damit zu tun, dass wir einander kulturell so ähnlich sind. Es gibt kein Land, außer Österreich, dem wir ähnlicher sind.

Inwiefern?

Wir liegen beide zwischen Ost und West. Wir trinken zusammen Bier. Wir essen gemeinsam Schnitzel. Welcher Franzose möchte mit Ihnen Bier trinken? Und wir lieben Schrebergärten – mit Gartenzwergen. Polen hat die zweitmeisten Schrebergärten in Europa. In vielen Ländern gibt es die gar nicht. Wir haben das gleiche geografische Netz im Kopf. Im Norden das Meer, im Süden die Berge, im Osten die Hauptstadt. Das trifft auf nur zwei Länder in Europa zu. Wir haben sogar jeder 16 Bundesländer beziehungsweise Woiwodschaften.

Dennoch scheint das Interesse eher einseitig zu sein. Polen schaut jedenfalls mehr auf Deutschland als umgekehrt.

Stimmt, sie sind ja auch das Land mit den meisten Deutschlernern weltweit. Aber in Richtung Osten sind sie genauso blind wie wir. Die meisten Polen waren noch nie in der Ukraine oder Belarus. So ist das leider in Europa. Welcher Franzose interessiert sich für Deutschland? Oder macht da Urlaub? Wir sind ein Kontinent mit einem West-Ost-Gefälle.

Warum laufen die deutsch-polnischen Ehen Ihrer Meinung nach so gut?

Es gibt ein einfaches Rezept: Beide Seiten sind positiv überrascht. Die deutsche Seite – meist Männer – merken: Eine polnische Ehefrau will nicht nur Karriere machen, sondern auch noch im Haushalt glänzen. Und die polnischen Frauen sind überrascht, weil ihr deutscher Mann entgegen der Erwartung, die frau als Polin hat, nicht nur auf dem Sofa liegt und Videospiele macht, sondern brav das Geschirr rausträgt und noch die Maschine einräumt. Ideale Paarung: die polnische Superwoman – weiblich und tough. Plus der deutsche Superman – männlich und soft.

Sie haben auch länger in Italien gelebt. Manchmal höre ich, die Polen seien die Italiener des Nordens. Ist da was dran?

Auf jeden Fall. Aber eben mit der Einschränkung: des Nordens. Denn die Party geht eben nicht sofort los. Erst nach einer Stunde ungefähr. Am Anfang sind sie sehr skeptisch und zurückhaltend. Also wieder uns Deutschen sehr ähnlich. Unser Lieblingswort ist ja das skeptische: Hä? Was die Polen uns aber voraushaben: mehr Hingabe oder Commitment.

Können Sie das erläutern?

Wenn ich einen Auftritt beende, sage ich Tschüss und auf Wiedersehen. Dann stehen sofort die Ersten auf und rennen aus dem Saal. Und das sind immer deutsche Zuschauer. Als Begründung hört man dann: Sorry, ich musste zur Straßenbahn, denn ich muss morgen um sieben Uhr raus. Kein Pole würde diesen Satz sagen. Wenn man irgendwo ist, dann ist man auch dort. Dann denkt man nicht an morgen. Wenn ich nach Deutschland zurückkomme, habe ich oft das Gefühl, dass wir emotional unwahrscheinlich reduzierte Menschen sind, wir Deutschen. Und das sind bittere Momente. Wir sind irgendwie so ausgetrocknet. Ich frage mich übrigens, wenn ich so positiv über Polen spreche, warum lebe ich eigentlich nicht dauerhaft dort?

Gute Frage!

Vielleicht, weil ich in Polen dreizehn sehr intensive Jahre hatte und eigentlich alles erlebt habe. Deutschland ist inzwischen wieder fremder für mich, mehr Herausforderung. Dafür will ich in Polen beerdigt werden, ich habe mir schon einen protestantischen Friedhof in Warschau ausgeguckt.

In Ihren früheren Büchern schreiben Sie noch, Warschau sei eigentlich hässlich, auch wenn Sie es damals schon sehr mochten. Trotzdem trifft das heute wohl nicht mehr zu.

Nein. Es ist sehr grün geworden. Ich war gerade vorhin an dem neu gestalteten Platz am Pa?ac Kultury. Super. Mit den deutschen Bäumen. Kennen Sie die Geschichte?

Dass die neu gepflanzten Bäume aus deutschen Baumschulen kommen? War ein politischer Aufreger für die polnische Rechte.

13 000 Z?oty pro Baum! (Anm. d. Red.: ungefähr 3050 Euro.)

Aufträge in diesem Umfang muss man wohl EU-weit ausschreiben.

Für die Rechten wieder ein Grund, aus der EU auszutreten!

Sie haben eine Theorie zu den polnischen Politikern. Die ein Problem haben, weil man dazu erzogen wird, sich nicht in den Vordergrund zu spielen. Und dann muss man das aber als Politiker.

Ja, ich habe oft das Gefühl, dass die als Privatmensch vielleicht ganz anders sind, netter. In dem Moment, wo der in Polen eigentlich zu Bescheidenheit und Zurückhaltung erzogene Mensch Politiker sein und auf die Bühne muss, wird es abstrus. Dann macht er Dinge, die er eigentlich schauspielert, er steht nicht wirklich dahinter. Die Gesellschaft ist stark auf Harmonie ausgerichtet, Negatives wird selten offen kommuniziert, eher hintenrum. Und auf die Weise lernt ein junger Mensch es nicht, kontroverse Sachen offen vorzutragen.

Wie passt es dann, dass wir hier acht Jahre PiS-Regierung erlebt haben? Deren Politiker Hetze und Hass auf ganze Bevölkerungsgruppen verbreiten und ständig alle anderen der Lüge bezichtigen. Man hat ja das Gefühl, Politiker aus verschiedenen Lagern können hier kein normales Wort miteinander wechseln.

Mittlerweile sind die Fronten wirklich sehr verhärtet. Aber was ich sagen wollte: Im normalen Leben, im Alltag, in der Familie sind die Leute nett und höflich und in gewisser Weise demütig. Doch sobald sie eine Funktion haben, spielen sie etwas vor. Schüler oder Studenten lernen hierzulande noch immer nicht wirklich, normal kritisch ihre Meinung zu äußern. Und so lernen sie auch nicht, Kritik anzunehmen.

Bemerken Sie eigentlich Klassenunterschiede?

Wenig. Gestern war ich auf einer polnischen Firmenparty, als Moderator. Was mir mal wieder auffiel, war, dass alle mit allen reden konnten. Egal, welcher Bildungsgrad, welche Hierarchiestufe: Also Klassenunterschiede sind schwächer als in Deutschland …

… als in Westdeutschland vielleicht.

Ja, klar. Im Grunde könnten wir genauso gut über Ostdeutschland reden. Da gibt es sehr viele Ähnlichkeiten. Eine polnische Juristin hat mir mal erzählt, wie entsetzt sie vom Standesdünkel der Juristen an ihrer westdeutschen Uni war. So eine postsozialistische Gesellschaft, ob in Polen oder Ostdeutschland, ist halt noch sehr homogen. Und jetzt differenziert sich das langsam aus, mit allen negativen Folgen.

Sie sind in Polen auch deshalb so bekannt, weil sie Polnisch sprechen und damit ein bisschen zum Übersetzer für eine ganze Nation wurden. Wie kriegt man mehr Deutsche zum Polnischlernen?

Schwierig. Ich habe mal an meiner alten Schule in Wuppertal dafür geworben, Polnisch statt Latein zu lehren. Mein Schuldirektor hat immer gesagt, Latein schule dank seiner sechs Fälle das logische Denken. Aber Polnisch hat sogar sieben Fälle. Und den Vorteil, dass es von mehr als 37 Millionen Menschen gesprochen wird. Nicht nur von hundert Kardinälen in Vatikanstadt. Aber mein Direktor meinte nur kühl: Was ist mit Ovid? Ich antwortete: Es gibt dafür Adam Mickiewicz. Von dem hatte er aber leider noch nie gehört.

Oder Boles?aw Prus. Dessen Roman „Die Puppe“ vom Ende des 19. Jahrhunderts jetzt neu ins Deutsche übersetzt wurde.

Ja, tolle Story: Kennen Sie die Marmortafel hier unweit an dem Haus in der Warschauer Innenstadt? Die daran erinnert, dass dort ein Protagonist aus „Die Puppe“ lebte? Wo gibt es das in Deutschland? Eine Gedenktafel für eine fiktive Romanfigur? Genau das ist die polnische Hingabe!